Martin Villig: Warum ich nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit fahre
27.12.2023
Martin Villig ist der Mitbegründer von Bolt. Er ist seit 25 Jahren Unternehmer und war in leitenden Positionen bei Skype, Fortumo und der Tallinner Börse NASDAQ tätig.
Seine Geschäftserfahrung hat ihn zu einer führenden Persönlichkeit in der estnischen Startup-Community gemacht. Zusammen mit seinem Bruder Markus Villig, dem Gründer und CEO von Bolt, wurde er mit dem E&Y Entrepreneur of the Year in Estland 2018 ausgezeichnet.
Die meisten Geschäftsleute von Martins Format kommen mit dem neuesten Audi oder Tesla zur Arbeit, aber 2018 hat Martin seine Autoschlüssel gegen Pedale eingetauscht.
Martin hat sich mit dem Bolt Content Team zusammengesetzt und darüber gesprochen, warum er seinen Arbeitsweg verändert hat.
Kluge Köpfe fahren Rad
Martin kommt zu unserem Gespräch mit einem blauen Fahrradhelm, den er an seinem Rucksack befestigt hat. Natürlich ist er heute mit dem Fahrrad ins Büro gefahren.
Und es ist eine gute Jahreszeit, um in Estland mit dem Rad zur Arbeit zu fahren — es ist ein bisschen windig, der Himmel ist blau und die Sonne scheint. Aber ein paar Windböen machen jemandem nichts aus, der das ganze Jahr über in Estland mit dem Rad zur Arbeit fährt.
Obwohl Martin so ein begeisterter Radfahrer ist, ist er nicht immer mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Vielmehr ist er die meiste Zeit seines Arbeitslebens mit dem Auto zur Arbeit gefahren.
“Den Großteil meines Arbeitslebens bin ich täglich 12 km mit dem Auto zur Arbeit gefahren. Aber 2018 sind wir von einem Vorort ins Stadtzentrum gezogen und seitdem fahre ich jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit.”
Man könnte meinen, dass es schwer ist, das Auto aufzugeben, nachdem man 20 Jahre lang jeden Tag darauf angewiesen war, aber Martins Familie hatte viele Verpflichtungen in der Stadt, obwohl sie in einem Vorort lebte, und er wusste, dass es Zeit für eine Veränderung war.
Vorstadteltern, die inoffiziellen Taxifahrer:innen
Das Leben in der Vorstadt klingt ideal. Du kannst in einem Haus wohnen, dich um deinen Garten kümmern und dein(e) Auto(s) auf deiner privaten Einfahrt parken — alles Dinge, die im Stadtzentrum nur schwer zu haben sind. Und für seine kleinen Kinder war es auch perfekt: “Es ist gut, in der Vorstadt zu leben, wenn man kleine Kinder hat. Sie rennen meistens herum und spielen im Garten oder auf der Straße.”
Aber als die Kinder älter wurden, traten Probleme auf, und Martin wurde ungewollt zum Fahrer für seine Kinder.
“Als unsere Kinder heranwuchsen, mussten sie um 8 Uhr morgens in der Schule sein — außerdem hatten sie nach der Schule noch Aktivitäten und Sporttraining in der Innenstadt. Das bedeutete, dass die ganze Familie früh aufstehen musste, um pünktlich im Auto zu sitzen. Wenn jemand zu spät zum Frühstück kam, führte das zu Stress.
“Als Eltern wurden wir zu Fahrer:innen — eine Rolle, die für mich zu viel war. Wenn man in einem Vorort wohnt und keine Kindergärten oder Schulen in der Nähe hat, ist das eine ziemliche Herausforderung, denn jeder verbringt viel Zeit mit dem Pendeln. Unsere Kinder haben die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt, um nach der Schule nach Hause zu kommen. Doch das dauerte 45 Minuten und war unbequem, vor allem wenn sie zum Training oder zu anderen außerschulischen Aktivitäten mussten, die meistens in der Stadt stattfanden.”
Unabhängigkeit in der Stadt
Martin und seine Familie beschlossen, dass sie so nicht mehr leben konnten und zogen aus dem Vorort in das Zentrum von Tallinn.
“Wir haben eine Wohnung in der Nähe der Schule unseres Sohnes gefunden und die Autoschlüssel weggeworfen. Dadurch wurde die ganze Familie unabhängig, denn alle kamen auf einmal zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule und zur Arbeit.”
Als Martin die Autoschlüssel wegwarf, musste er eine Alternative finden, wie er zur Arbeit fahren konnte und nutzte das alte Stadtrad seiner Frau.
Die Entdeckung des Lastenfahrrads
Heute sieht man Martin eher auf einem Lastenrad durch Tallinn radeln – er ist ein eifriger Verfechter dieser Räder geworden.
“Im Herbst 2022 hab ich irgendwo ein Lastenrad gesehen und wollte es ausprobieren. Ich habe einige Modelle ausprobiert, und 3 Monate später fand ich das Modell, das perfekte Modell — damit fahre ich jetzt meistens.”
Das Lastenfahrrad hat sich als eine gute Investition erwiesen, nicht nur für den Arbeitsweg, sondern für die ganze Familie.
“Wenn du ein Lastenrad zusammen mit Kindern ausprobierst, werden sie sofort Fans und wollen nicht mehr Auto fahren! Wenn kleinere Kinder auf dem Rücksitz eines Autos sitzen, können sie nicht richtig aus dem Fenster schauen. Auf einem Lastenfahrrad hingegen sind sie draußen und können sehen, was um sie herum passiert. Das gibt ihnen eine ganz neue Perspektive auf die Stadt.”
Vorteile, wenn man mit dem Rad zur Arbeit fährt
Martins Arbeitsweg ist 3 km lang und dauert mit dem Fahrrad etwa 12 Minuten. Aber tagsüber fährt er auch oft mit dem Fahrrad zwischen den Büros zu verschiedenen Meetings und ist dann 30-50 Minuten unterwegs (zwischen 7-10 km).
“Manchmal ist das Auto schneller als das Fahrrad, aber die Fahrt mit dem Auto kann aufgrund von Staus auch dreimal länger dauern. Das macht es schwierig, die Fahrzeiten vorherzusagen. Mit dem Fahrrad ist meine Fahrzeit jeden Tag gleich lang, so dass ich immer genau weiß, wann ich losfahren muss.”
Neben den Vorteilen, die eine gleichbleibende Fahrzeit mit sich bringt, hat das Radfahren Martin auch von den Dingen befreit, die er am Autofahren am wenigsten mag: einen Parkplatz zu finden und im Stau zu stehen.
“Jetzt, wo ich mit dem Rad fahre, bekomme ich mehr frische Luft und mache zwischen den Meetings ein bisschen Sport — ich versuche, nicht zu schnell zu fahren, weil ich nicht schwitzen möchte. Die Zeit, die ich auf dem Rad verbringe, gibt mir die Möglichkeit, nachzudenken, und ich finde, dass ich dadurch produktiver werde. Wenn du im Auto sitzt, bewegst du dich viel weniger, was sich langfristig auf deine Gesundheit auswirken kann.
Und wenn Martin unterwegs einen Zwischenstopp einlegen möchte, findet er ohne Probleme einen Parkplatz. Er kann vor dem Büro oder sogar direkt vor einem Café in Tallinn parken, ohne einen Parkplatz suchen zu müssen.
Es gibt kein schlechtes Wetter — auch nicht in Estland
Viele Pendler:innen nennen oft das Wetter als Hindernis für das Radfahren. Aber Martin fährt das ganze Jahr über mit dem Rad, in einem Land, das für seine langen, dunklen und kalten Winter bekannt ist. Er glaubt, dass man bei jedem Wetter radeln kann, solange man gut vorbereitet ist — und er beweist es!
“Das Wetter kann eine Herausforderung sein — aber nur manchmal. Wenn du darüber nachdenkst, dich vorbereitest und vernünftig anziehst, dann ist es in Ordnung. Ich habe es mir nicht aufgeschrieben, aber ich glaube, es gibt nur etwa 5 Tage im Jahr, an denen ich bei wirklich starkem Regen oder Schnee fahre. Aber an dieses Wetter habe ich mich mittlerweile gewöhnt.”
Gehörst du zu denjenigen, die ihr Fahrrad wegstellen, sobald die Temperaturen sinken? In diesem Fall rät Martin, einfach in eine Winterjacke, einen Snowboardhelm, Schutzbleche mit Verlängerungen (um schmutzige Schuhe zu vermeiden) und einen Fahrradponcho, der über den Lenker gezogen wird (damit deine Knie und Hosen trocken bleiben), zu investieren.
“So ausgerüstet kannst du auch bei schlechtem Wetter radfahren.”
Schlimmer als schlechtes Wetter ist die schlechte Infrastruktur
Das Fehlen einer sicheren, zuverlässigen Infrastruktur in den Städten ist die größte Herausforderung für viele Menschen, die mit dem Fahrrad pendeln. Auch Martin ist in Tallinn damit konfrontiert: “In Tallinn gibt es nicht genug ausgewiesene Radwege, also versuche ich, kleinere Straßen zu nehmen.”
Einige Städte haben es jedoch richtig gemacht. Martin glaubt, dass es in Europa 4 Städte gibt, die den Weg weisen: “Die Fahrradinfrastruktur in Kopenhagen ist hervorragend und es ist einfach, das Fahrrad im Zug mitzunehmen, um dann in andere Gegenden Dänemarks zu fahren. Ähnliche Erfahrungen habe ich auch in Helsinki, Stockholm und Amsterdam gemacht.”
Ob mit oder ohne gute Infrastruktur, das Fahrrad ist immer noch der beste Weg, um die eigene Stadt oder einen anderen Ort zu entdecken: “Mit dem Fahrrad kommst du in Gegenden, die du normalerweise nicht besuchen würdest. Es ist eine coole Art, eine Stadt kennenzulernen.”
Fühle dich frei, indem du mit dem Fahrrad zur Arbeit fährst
Der Besitz eines Privat-PKWs ist nicht mehr so wichtig wie früher. Eine wachsende Zahl nachhaltiger Mobilitätsoptionen bietet eine praktikable Alternative zum Autobesitz. Und davon profitieren deine Gesundheit, dein Sozialleben und deine Produktivität.
“Es ist an der Zeit, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass der Besitz eines Autos ein Statussymbol ist. Die jüngere Generation versteht, dass es nicht unbedingt notwendig ist, ein Auto zu besitzen, und erkennt, dass es möglich ist, sich das Leben zu erleichtern, indem man Fahrräder, Mikromobilität und geteilte Verkehrsmittel nutzt.”
Martins Umstellung ist ein extremes Beispiel. Er hat seine Autoschlüssel weggeworfen und fährt jetzt täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit und zurück. Deine perfekte Lösung muss nicht so schwarz-weiß sein.
“Probiere verschiedene Arten der Fortbewegung aus und finde heraus, was für dich funktioniert. Es gibt viele Möglichkeiten, z. B. E-Bikes, Lastenräder und E-Scooter. Fang doch damit an, das Auto ein- oder zweimal pro Woche oder bei schönem Wetter zu Hause zu lassen. Finde heraus, wie du zurechtkommst, und ändere dann deine Gewohnheiten Schritt für Schritt. Ich habe festgestellt, dass eine Strecke von 1-7 km ideal für Fahrrad und E-Scooter ist.”
Wenn jemand, der 20 Jahre lang mit dem Auto zur Arbeit gefahren ist, seinen Arbeitsweg drastisch ändern kann, kannst du das auch. Wenn Martins Geschichte dich inspiriert hat, dann finde heraus, wie du deine Gewohnheiten ändern kannst, um deiner Gesundheit, deinem Geldbeutel und unserem Planeten etwas Gutes zu tun.