Durch die Linse von Tõnu Tunnel: Von Räumen für Fahrzeuge zu Orten für Menschen

28.06.2023

Tunnels Vision

Vielleicht ist es dir gar nicht bewusst, aber deine Stadt ist für Autos gebaut. Straßen und Autos nehmen bis zu 80% der städtischen Flächen ein. Stell dir vor, ein Teil davon könnte stattdessen in grüne Parks und belebte Promenaden umgewandelt werden.

Auf der ganzen Welt haben Städte begonnen, sich gegen Privat-PKWs zu wehren.

Um den Wandel zu dokumentieren, haben wir den preisgekrönten Fotografen Tõnu Tunnel quer durch Europa geschickt und seine Arbeiten in der allerersten Galerie der urbanen Transformation zusammengestellt.

Und jetzt ist es an der Zeit, den Künstler selbst zu Wort kommen zu lassen – Tõnu Tunnel, ein Fotograf, der von den sich ständig verändernden Städten fasziniert ist.

F: Erzähl uns ein bisschen was über dich.

“Als freiberuflicher Architekturfotograf fühle ich mich dazu hingezogen, künstliche Räume zu porträtieren. 

Schon mein halbes Leben lang fasziniert mich die Beobachtung von Städten, deren Architektur und Urbanismus. Bevor ich mich an der Estnischen Kunstakademie der Fotografie widmete, studierte ich kurzzeitig Bauingenieurwesen an der Technischen Universität Tallinn. Obwohl das Fach für meinen Geschmack zu trocken war, war es mein erster Hinweis auf ein tiefes Interesse an der gebauten Umwelt.

Da ich in Tallinn lebe, habe ich eine reiche Geschichte verschiedener Epochen miterlebt, von der mittelalterlichen Altstadt über heruntergekommene Industriegebiete aus der Sowjet-Ära, den “Cowboy-Kapitalismus” der 90er Jahre bis hin zu schicken Mikro-Lofts mit Smartphone-gesteuerten Türen. 

Die Beobachtung dieser Gebiete und ihrer unvermeidlichen Gentrifizierung hat sich von einer Leidenschaft zu einem Beruf entwickelt. Obwohl ich hauptsächlich im Auftrag von Architekt:innen fotografiere, dokumentiere ich gelegentlich auch alte Gebäude, die abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit renoviert werden sollen. Ich fühle eine besondere soziale Verantwortung, das Andenken an diese Gebäude zu bewahren.”

Von Barcelona nach Amsterdam: Sich dem Puls der verschiedenen Städte anpassen

F: Beschreibe das Projekt; wie hast du dich zurechtgefunden? Welchen Herausforderungen bist du begegnet? Welche waren deine Lieblingsstädte?

“Die Arbeit an diesem Projekt war ein interessantes Experiment, bei dem ich erfahren habe, wie verschiedene Städte aussehen, sich anfühlen und atmen. 

Während ich mich in einigen Städten leicht zurechtfinden konnte, erwies sich die Fortbewegung in anderen als anstrengender.

Überraschenderweise verflog der Reiz, jeden Tag in eine neue Stadt zu reisen, schnell und ich lernte die Normalität städtischer Räume zu schätzen. Das Projekt zwang mich dazu, meinen Rhythmus und meine Aufnahmetechniken anzupassen. Ich lernte, schneller und diskreter zu sein.

Ich verzichtete sogar auf mein Stativ, um wie ein Tourist zu wirken. So konnte ich vermeiden, dass ich auf der Suche nach der perfekten Aufnahme eines belebten Platzes oder einer Fußgängerzone auffiel.

Die Reise durch die Städte war voller unvergesslicher Momente, von einem Fahrer eines Taxis in Barcelona, der durch die Nacht raste, bis hin zu älteren Herren, die eine Partie Boule spielten, und lebhaften Gesprächen in der Stadt.

Der erfreulichste Aspekt der Reise war jedoch, mitzuerleben, wie sich die von Autos bevölkerten Straßen langsam in lebendige Fußgängerzonen verwandelten.

Paris mit dem E-Bike zu erkunden, war eine unerwartet schöne Erfahrung. Gleichzeitig eroberte Kopenhagen dank seiner rücksichtsvollen Verkehrskultur schnell mein Herz und wurde zu einer meiner absoluten Lieblingsstädte.

Umgekehrt fühlte sich das Manövrieren in Amsterdam ein wenig aggressiv an und ließ mich die Harmonie vermissen, die ich in Kopenhagen zu schätzen gelernt hatte.”

Die Entwicklung der Städte: Von Räumen für Autos zu Orten für Menschen

F: Welche Städte haben sich am meisten verändert? In welchen gibt es noch Raum für Veränderungen? Und wie können wir Städte schaffen, die mehr auf Menschen ausgerichtet sind?

Obwohl es schwierig ist, genaue Orte zu nennen, war ich von den Veränderungen in Paris und Amsterdam beeindruckt. Gleichzeitig gibt es in Städten wie Turin, Madrid, Tallinn und Stockholm meiner Meinung nach noch viel Luft nach oben.

Als erfahrener Radfahrer habe ich mich fast überall wohl gefühlt, weil ich E-Scooter und E-Bikes mieten konnte. Trotzdem verstehe ich, dass nicht jeder Mensch das gleiche Vertrauen hat wie ich, wenn er in einer fremden Stadt unterwegs ist.

Um eine Stadt zu schaffen, die ihren Bewohner:innen gerecht wird und überhaupt in der Lage ist, sich zu verändern, benötigen wir Grünflächen, Gleichberechtigung zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern und einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz in der Stadtplanung.

Die Städte von morgen müssen integrativ, barrierefrei und nachhaltig sein und den Menschen in den Mittelpunkt stellen, nicht das Auto. Die Umgestaltung der Städte ist jedoch keine Aufgabe für Stadtplaner:innen allein. Sie erfordert kollektives Handeln. Wir als Bürger:innen spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Städte.

Denn die Städte, die wir uns für morgen wünschen, beginnen mit den Maßnahmen, die wir heute ergreifen.

Denn der Wandel kann schneller vonstatten gehen, wenn wir weniger Auto fahren, mehr zu Fuß gehen und/oder Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel, E-Scooter, E-Bikes und geteilte Fahrzeuge nutzen.”

Besuche die komplette Online-Galerie und erfahre mehr darüber, wie wir Städte für Menschen, nicht für Autos, schaffen können.

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